In dem 2018 erschienenen Roman „Die Stille meiner Worte“ von Ava Reed geht es um die siebzehnjährige Hannah, die ihre Zwillingsschwester Izzy verloren hat. Seit diesem Ereignis ist sie nicht mehr dazu in der Lage, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Nur in den Briefen an ihre Schwester schafft sie es, ihre wahren Gefühle und Sorgen zu teilen.
Da ihre Eltern nicht dazu imstande sind, ihr bei der Bewältigung ihrer Trauer zu helfen, schicken sie Hannah nach Sankt Anna, einem Internat für Kinder und Jugendliche, die Schreckliches durchleben mussten – ein Ort für kaputte Dinge, wie Hannah ihn nennt.
Vor Beginn des neuen Schuljahres müssen die Neuankömmlinge an einem mehrwöchigen Camp teilnehmen. Da ihr Kater Mo, der ehemals eigentlich Izzys Kater war, das einzige ist, was Hannah noch von ihrer Schwester geblieben ist, nimmt sie ihn heimlich mit ins Camp.
Dort trifft sie auf andere verschlossene Jugendliche, die schlimme Erfahrungen durchleiden mussten. Doch Hannah ist überzeugt davon, dass niemand von ihnen ein so großes Geheimnis verbirgt wie sie. Nur in einem ist sie sich sicher: Niemand soll herausfinden, was ihr passiert ist, wie ihre Zwillingsschwester umgekommen ist und welche Rolle sie selbst dabei spielte. Als sie immer wieder auf Levi trifft, beginnt ihr Geheimnis jedoch zu wanken. Wird es ihr gelingen, zu heilen und ihre Schwester endlich loslassen zu können?
Textstelle:
(An einem der ersten Tage im Camp, nachdem Hannah in Gedanken eine Erinnerung an ihre Schwester aus der Kindheit durchlebt hat.)
„Izzys Stimme klingt nach, sie erfüllt und wärmt mich von innen. Von da an war sie der Fisch, der keine Flügel brauchte, aber schwimmen konnte, und ich der Vogel, der seine Flügel versteckte und nicht ins Wasser wollte. Manchmal nannte sie mich Vögelchen, auch, als wir längst keine Kinder mehr waren. Natürlich wusste sie da, dass wir weder Fisch noch Vogel sind und dass ich Glück hatte, dass Mum mich sofort aus dem Wasser holte, genauso wie ich wusste, dass Izzy das mehr zu schaffen machte, als sie zugab.
Der Punkt ist, es ist nichts passiert. Bei all unseren Fehlern und Abenteuern ist am Ende immer wieder alles okay gewesen oder geworden. Wir hatten Glück. Wir haben immer aufgepasst. Bis zu diesem einen Tag. Ich habe unseren sicheren Weg verlassen und der brachte uns an einen Ort, an dem nie wieder alles okay sein würde.
Meine Arme zittern vor Anstrengung, aber ich traue mich nicht, mich nicht zu bewegen. Weil ich dann Erinnerungen hinter mir lasse und ins Jetzt zurückkehren muss.
Irgendwann bleibt mir keine Wahl, ich lasse die Arme sinken, die taub geworden sind und nun kribbelten, und hebe den Kopf aus dem Nacken, der vollkommen verspannt ist. Mein Gesicht verzieht sich, weil es so unangenehm ist. Aber das war es wert.
Dieser Ort ist wunderschön – wunderschön, um Izzy ihre Nachrichten zu schicken. Ich werde heute Nacht wiederkommen. Ich werde Briefe mitnehmen. Hier, wo Vogel und Fisch zusammenfinden.
Entschlossen drehe ich mich um und stolpere kurz, weil ich so erschrecke. Dort steht ein Junge. Ich fühle mich ertappt, gehe wieder weiter ins Wasser, weil ich nicht will, dass er meine Füße und Beine, meine Haut sieht. Ich gehe zurück, bis sich meine Hose mit Wasser vollsaugt, und starre ihn an. Ihn, der nur dasteht mit ernstem Gesicht, seiner zerrissenen Jeans, dem roten Shirt, der komischen Cap, barfuß. Er mit der Gitarre, die wunderschön braun glänzt. Mit den Armen voller Tattoos. Ich habe ihn schon gesehen, im Bus. Er hat geschlafen. Ich kneife die Augen zusammen und denke nach. Aber wo war er danach? Er war nicht bei der Vorstellungsrunde. Wer ist er?
Meine Arme legen sich um meinen Oberkörper. Ich fühle mich immer unwohler, aber ich kann der Situation nicht entkommen, kann mich nicht bewegen. Seinem Blick ausweichend atme ich ein und aus, immer wieder. Ich sehe dich nicht, du siehst mich nicht, höre ich Izzy in meinem Kopf. Wenn es nur so einfach wäre.
In Gedanken zähle ich eins, zwei, drei, vier und wieder von vorne, atmen, Hannah, atmen.
Dann höre ich Blätter rascheln, Holz knacken. Er geht.
Ich frage mich, wie lange er dort gestanden und was er gesehen hat. Wahrscheinlich nur ein stummes Mädchen, das am Rande des Sees stand und sich nicht bewegte, mit geschlossenen Augen und Armen ausgebreitet wie Flügeln. Nichts Ungewöhnliches und doch so verrückt.
Weil wir hier nicht irgendwo sind irgendwann, sondern in diesem Camp an diesem Tag.“
Meine Meinung:
Ich finde, dass der Roman aufgrund der Figuren, auch über Hannah hinaus, und deren jeweiligen Problemen sehr eindrücklich demonstriert, dass jeder Mensch sein Päckchen hat, das er tragen und mit dem er zurecht kommen muss. Die Tragweite eines großen Päckchens und traumatischer Erfahrungen werden nicht nur durch Hannahs Stummheit deutlich, sondern auch durch Ava Reeds sehr fesselnden Schreibstil, der einen mit ihrer Protagonistin fühlen, leiden und freuen lässt.
Doch obwohl die Stimmung des Romans vor allem zu Beginn phasenweise recht bedrückend ist, gibt die Geschichte einen Lichtblick, der über den Roman hinaus gültig ist: Wir alle haben unsere Probleme, mit denen wir kämpfen. Daher ist es umso wichtiger, nacheinander zu sehen und sich gegenseitig die Unterstützung, aber auch den Raum zu geben, um zu heilen.
Der Roman ist in der Bücherei unserer Schule ausleihbar.
Antworten