Buchempfehlung „Die Mitternachtsbibliothek“

Der Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig erschien im englischsprachigen Raum erstmals 2021 und handelt von der 35jährigen Nora Seed, die es bisher alles andere als leicht im Leben hatte. Es gab bereits viele Dinge, die sie gerne werden wollte. Profischwimmerin, Forscherin, Musikerin, Philosophin, doch nichts davon schien richtig zu funktionieren. Nachdem ihre Eltern nun beide schon lange tot sind, ihr Bruder kaum noch mit ihr redet, seit Nora die gemeinsame Band verlassen hat, ihre beste Freundin nach Australien gezogen ist, sie ihren Verlobten verlassen hat, ihre Katze gestorben ist und sie ihren Job verloren hat, hat Nora das Leben satt. Daher beschließt sie nicht länger leben zu wollen. Doch statt tatsächlich zu sterben, findet sie sich in der Mitternachtsbibliothek wieder, in der sie Mrs Elm, die Bibliothekarin ihrer ehemaligen Schule, wiedertrifft. Die Regale der Mitternachtsbibliothek sind gefüllt mit etlichen Büchern über die Leben, die sie hätte haben können, wenn sie auch nur eine einzige Entscheidung anders getroffen hätte. Mrs Elm bietet Nora die Möglichkeit, sich eines dieser Leben auszusuchen, statt zu sterben. Doch wird Nora das Leben finden, das sie glücklich macht, oder hat ihr ehemaliger Bandkollege recht und sie hat zu große Angst davor zu leben?


Textstelle

„Drei Stunden bevor sie beschloss zu sterben, bestand sie fast nur noch aus schmerzlicher Reue, als sei die Verzweiflung ihrer Seele jetzt irgendwie auch in ihren Körper und ihre Gliedmaßen gedrungen. Als hätte die Verzweiflung sie komplett besiegelt.

Es erinnerte sie daran, dass alle besser dran waren ohne sie. Man kommt in die Nähe eines schwarzen Lochs, und die Schwerkraft zieht einen in dessen trostlose, düstere Realität. 

Der Gedanke war wie ein nicht endender Seelenkampf, zu schlimm, um ihn zu ertragen, zu stark, um ihm zu entkommen.

Nora durchforstete ihre sozialen Medien. Keine Nachrichten, keine Kommentare, keine neuen Follower, keine Freundschaftsanfragen. Sie war Antimaterie, und Selbstmitleid kam noch dazu. 

Sie ging auf Instagram und sah, dass es allen gelungen war, ihr Leben zu gestalten, außer ihr. Sie postete ein umfangreiches Update auf Facebook, obwohl sie gar nicht mehr regelmäßig auf Facebook war. 

Zwei Stunden bevor sie beschloss zu sterben, öffnete sie eine Flasche Wein.

Alte Philosophiebücher blickten auf sie herab, geisterhafte Einrichtungsgegenstände aus ihren Studientagen, als das Leben noch Möglichkeiten bot. Eine Yuccapalme und drei Töpfe mit winzigen plumpen Kakteen. Als empfindungslose Lebensform, die den ganzen Tag in einem Blumentopf saß, existierte es sich vermutlich leichter.

Sie setzte sich an das kleine E-Piano, spielte aber nichts. Sie dachte daran, wie sie neben Leo gesessen und ihm Chopins Prelude in e-Moll beigebracht hatte. Glückliche Momente können sich in Schmerz verwandeln, mit der Zeit.

Es gab da einen alten Musikerscherz, dass es auf einem Klavier keine falschen Noten gebe. Ihr Leben jedoch war eine sinnlose Kakofonie. Ein Musikstück, das sich wunderbar hätte entwickeln können, aber stecken geblieben war. 

Die Zeit verstrich. Nora starrte ins Leere.

Nachdem sie den Wein getrunken hatte, traf sie eine vollkommen klare Erkenntnis. Sie war nicht für dieses Leben gemacht. Jeder Schritt war ein Fehler gewesen, jede Entscheidung ein Desaster, tagtäglich hatte sie sich weiter von der Person entfernt, die sie einmal hatte werden wollen.

Schwimmerin. Musikerin. Philosophin. Gattin. Weltreisende. Gletscherforscherin. Glücklich. Geliebt. 

Nichts.

Nicht einmal Katzenbesitzerin hatte geklappt. Oder Eine-Stunde-pro-Woche-Klavierlehrerin. Oder Mensch, der Gespräche führen kann.

Die Tabletten wirkten nicht.

Sie trank den Wein aus. Die ganze Flasche. 

„Ich vermisse euch“, sagte sie vor sich hin, als seien die Geister aller Menschen, die sie geliebt hatte, hier bei ihr im Raum. 

Sie rief ihren Bruder an und hinterließ eine Sprachnachricht, als er nicht ranging. 

„Ich hab dich lieb, Joe. Ich wollte nur, dass du das weißt. Du hättest nichts machen können. Es liegt an mir. Danke, dass du mein Bruder bist. Ich hab dich lieb. Tschüss.“

Es begann wieder zu regnen, und so saß sie da, bei hochgezogenen Jalousien, und starrte die Tropfen auf der Scheibe an. 

Es war jetzt 23 Uhr und 22 Minuten. 

Sie wusste nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie wollte den morgigen Tag nicht mehr erleben. Sie stand auf. Sie suchte einen Stift und ein Blatt Papier. 

Es war, fand sie, ein sehr guter Zeitpunkt zum Sterben.“


Meine Meinung

„Die Mitternachtsbibliothek“ ist definitiv kein leichtes, lustiges Buch, sondern hat mir nach Beenden des Lesens noch lange nachgehangen. Doch auch wenn mich „Die Mitternachtsbibliothek“ beim Lesen durchaus sehr deprimiert hat, hat es mich gleichermaßen fasziniert, denn dieses Buch hat mir sehr deutlich vor Augen geführt, worum es im Leben tatsächlich geht. Jedem von uns bieten sich im Leben so viele verschiedene Möglichkeiten, so viele verschiedene Leben, die wir leben könnten. Doch dabei geht es letztendlich vielleicht gar nicht darum, das beste Leben davon zu finden, sondern aus dem Leben, wie es jetzt gerade ist, das Beste zu machen und darin glücklich zu sein, statt uns zu lange mit „Was wäre, wenn…“-Fragen aufzuhalten. Auch wenn es bereits zwei Jahre her ist, dass ich „Die Mitternachtsbibliothek“ zum ersten Mal gelesen habe, ist es immer noch eines der Bücher, das mir am präsentesten in Gedanken geblieben sind und mich noch immer zum Nachdenken bringt. Daher finde ich, dass dieser Roman ein absoluter Must-Read ist, solange man sich wirklich auf die Geschichte einlassen kann und will. 

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